Brüder Im Geiste, Teil 4 German


by Hans Jorgens

Bitte lesen Sie zum besseren Verstaendnis zunaechst die Teile 1 bis 3 der Geschichte.

Sie trafen sich zufaellig. Rudolf Rolleck war mit dem Beschneiden eines ueppig wuchernden Strauches beschaeftigt, und Peter Schulze kam an Rollecks Haus vorbei, weil er zur Freiwilligen Feuerwehr unterwegs war, um seinem Hobby, der Pflege eines alten, laengst ausser Dienst gestellten Einsatzfahrzeuges zu froenen.

"Hallo Rudi!", rief Peter laut, um sich bemerkbar zu machen.

Rolleck drehte sich zu ihm um, legte die grosse Gartenschere zur Seite und kam auf ihn zu.

"Hallo Peter! Na, alles klar im Hause Schulze?"

"Kommt drauf an, was du damit meinst", erwiderte Peter laechelnd.

Sie gaben sich freundschaftlich die Hand.

"Na, deinen Filius Michael meine ich natuerlich", sagte Rudi. "Als er vor'n paar Tagen unseren Rohrstock zurueck brachte, hat er behauptet, er haette von dir nur drei Hiebe damit gekriegt. Meinst du, das reicht aus, um ihn wieder auf Linie zu bringen?"

Peter grinste. "Da mach' dir man keinen Kopf drum, Rudi. Er hatte vorher schon reichlich welche mit meinem Latschen bezogen und sollte den Stock anschliessend nur mal kennen lernen. Das hat er, und ich denke, er wird sich den salzigen Geschmack ziemlich gut merken."

Rolleck lachte heiser, zuendete sich eine 'Juno' an und gab die Schachtel an seinen Nachbarn weiter.

"Und gleich am Montag habe ich in der Stadt zwei schoene Rattanstoecke gekauft", fuhr Peter Schulze fort. "Danke uebrigens fuer den Tipp!"

"Dafuer nicht. Immer zu Diensten."

"Sind ja wirklich ganz schoene Striemenzieher, die Dinger", sagte Peter.

"Dafuer werden sie gemacht. Wenn ich meinen Klaus durchhaue, will ich ihm ja schliesslich nicht die Baeckchen streicheln, sondern seinen Arsch anstaendig zum Gluehen bringen."

"Und wie oft ist das bei ihm noetig?"

"Nicht so haeufig. Ich hab' ihn gut im Griff, und er ist ein lieber Junge. Natuerlich auch deswegen, weil er genau weiss, dass ich ihm das Fell voll haue, wenn er nicht spurt. Allerdings kommt es in letzter Zeit oefter mal vor, dass er aus der Schule schlechte Zensuren mit nach Hause bringt. Dann rauscht es bei mir im Karton. Ich will, dass er sich anstrengt. Die letzte Tracht hat er Sonnabend fuer sein Sommerzeugnis gekriegt. Aber das hatte ich dir ja schon erzaehlt."

"Ja."

Sie rauchten genuesslich ihre Zigaretten.

"Sag' mal, hast du noch'n Moment Zeit?", fragte Rolleck.

"Klar."

"Soll ich dir mal den Sessel zeigen, ueber den wir uns immer legen mussten, wenn unser Alter uns den Arsch versohlt hat? Der steht naemlich noch in der Laube herum."

Peter Schulze nickte. "Warum nicht."

Rolleck oeffnete ihm die Gartentuer, und sie gingen gemeinsam um das Haus herum auf eine windschiefe Holzhuette zu. Drinnen herrschte gepflegte Unordnung. Die Beleuchtung bestand aus einer von Spinnweben umhuellten Gluehbirne. Ein wuchtiger, aber relativ flacher, mit hellbraunem Stoff bezogener Sessel nahm fast ein Viertel des kleinen, etwas muffig riechenden Raumes ein.

"Das ist er", sagte Rolleck ueberfluessiger Weise.

Bedaechtig ging er auf das Sitzmoebel zu und strich mit einer Hand ueber die deutlich abgenutzte Rueckenlehne.

"Keine Ahnung, wie oft wir hier mit blank gemachtem Arsch drueber gelegen und uns die Augen aus dem Kopf geheult haben. Mann, Mann, Mann, das waren harte Zeiten damals. Aber trotzdem schoen."

"An den Sessel kann ich mich noch ganz gut erinnern", sagte Peter Schulze.

"Ich auch, mein Lieber, ich auch".

Sie lachten.

"Ich kann das Ding einfach nicht zum Sperrmuell geben. Ist'n echter Witz, ich weiss. Aber es erinnert mich an meine Kindheit. Und an meinen Vater. Manchmal denke ich, mein alter Herr geistert hier irgendwo 'rum und wartet nur darauf, dass ich etwas anstelle. Und dann gibt's wieder Senge, wie frueher."

Heinrich Rolleck war in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs beim Kampf um die damalige Reichshauptstadt Berlin gefallen.

"Einmal hab' ich mit Peter Samling zusammen einen kraeftigen Jungbullen geaergert. Wir haben ihn mit Kartoffeln beworfen, und zwar so heftig, dass das Vieh immer wuetender wurde. Irgendwann gingen uns die Kartoffeln aus, und wir liessen ihn in Ruhe. Als ich nach Hause kam, hatte ich die Sache schon wieder vergessen.

Kaum war ich in der Tuer, fing ich mir von meinem Alten ein paar mordsmaessige Maulschellen ein. Dann packte er mich am Ohr und zerrte mich hier 'rueber in die Laube. Er suchte sich irgend ein Stueck Flachholz, packte mich am Arm und knallte mir das Ding mit voller Wucht auf meinen Hosenboden und auf die nackten Oberschenkel. Er bruellte: 'Du weisst doch, wie gefaehrlich es sein kann, einen Bullen zu reizen! Der hat in seiner Wut so viel Kraft, einen Weidezaun niederzureissen und euch auf die Hoerner zu nehmen und zu zertrampeln! Ausserdem habt ihr eine Menge guter Kartoffeln verschwendet. So geht man nicht mit Nahrungsmitteln um!' Und dabei haute er mir immer wieder welche mit dem verdammten Holzbrett ueber'n Arsch. Das zog vielleicht durch, kann ich dir sagen. Als er endlich fertig war, sagte er, dass er mir jetzt ein paar Stunden Zeit geben wuerde, um ueber mein Verhalten nachzudenken. Anschliessend wuerde er mir dann noch eine richtige Tracht mit dem Rohrstock verabreichen. Und dann schloss er mich in der Laube ein."

"Wie alt warst du damals?"

"Moment ... das muss im Sommer 1933 gewesen sein. Ich war also 13. Mein Alter Herr wurde im November 1895 geboren, also war er damals 37. Im besten Alter sozusagen."

"Wie wir jetzt. Und was kam dann?"

"Ich weiss nicht genau, wie lange ich in dieser Laube war, aber es muessen ungefaehr drei Stunden gewesen sein. Mein Arsch und meine Oberschenkel brannten wie Feuer. Ich heulte vor Schmerzen und schlotterte vor Angst. Mann, was hatte ich fuer einen Schiss vor dem Moment, wenn mein Vater mich aus der Laube rausholen und in die Stube bringen wuerde, um mir da noch mal den Hintern voll zu hauen. Irgendwann kam er dann natuerlich wirklich. Ich war so klein mit Hut und hab' ihm die Ohren vollgejault, dass ich nie, nie wieder etwas Boeses tun wuerde. Ich flehte ihn an, mich nicht noch einmal zu versohlen, aber das nuetzte ueberhaupt nichts. In der Stube musste ich die Hosen runterlassen und mich wie immer ueber die Ruecklehne dieses verdammten Sessels legen. Dann hat er mich mit dem Stock dermassen durchgehauen, dass ich das ganze Dorf mit meinem Gesang unterhalten haben muss. Anschliessend hab' ich noch eine halbe Stunde mit nacktem Arsch in der Ecke gestanden, und dann ging's ohne Abendbrot sofort ins Bett. Diesen Tag werde ich mein Lebtag nicht vergessen."

"Hatte er die Sache mit dem Bullen beobachtet, oder wie hat er davon erfahren?"

"Komisch, aber danach habe ich ihn nie gefragt, und er hat's mir auch nie erzaehlt. Ich weiss es, ehrlich gesagt, bis heute nicht."

"Ist Peter Samling mit heiler Haut davon gekommen?"

"Ich habe ihn natuerlich nicht verraten, aber mein Vater hat es seinem Alten mit besoffenem Kopp beim Schuetzenfest erzaehlt. Also hat Peter erst ein paar Wochen spaeter seine Dresche bezogen. Dafuer dann aber reichlich. Kannst ihn ja mal danach fragen."

"Ach, lass mal gut sein!"

"Sein Alter hat ihn in der Scheune mit einer Bullenpeitsche durchgepruegelt."

"Wie passend zum Anlass."

"Kann man wohl sagen. Der arme Peter lief danach noch Wochen lang mit Striemen und blauen Flecken durch das Dorf."

Die beiden Maenner schwiegen versonnen.

"Erinnerst du dich noch an deine schlimmste Tracht?", fragte Rudi.

Peter ueberlegte kurz.

"Es war nicht die heftigste, aber eine der schlimmsten auf jeden Fall, weil ich eigentlich nicht mehr damit gerechnet habe, dass ich noch mal Dresche kriege."

"Wie alt warst du denn damals?"

"Achtzehn, fast neunzehn. Da bin ich ihm wohl irgendwie frech gekommen. Zack, und schon hatte ich was an die Backen gekriegt. Ein Wort gab das andere, und auf einmal schubste er mich auf mein Bett und zog mir die Schlafanzughose runter. Dann nahm er seinen Pantoffel und haute mir wie frueher den Hintern voll. Ich versuchte, von ihm weg zu kommen, aber er liess sich ueberhaupt nicht beirren. Klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, bis ich wirklich Rotz und Wasser heulte. 'So lange du in meinem Haus lebst, hast du zu gehorchen', sagte er. 'Und wenn du nicht spuren willst, dann kriegst du so lange deinen Arsch versohlt, bis du's kapiert hast.' So einfach war das. Ich war richtig fertig hinterher, denn ich hatte damals bestimmt schon zwei Jahre keine Pruegel mehr gekriegt. Aber nach diesem Erlebnis bin ich meinem Vater nie wieder dumm gekommen, das kannst du mir glauben."

"Ja, unsere Alten waren streng mit uns, aber wir haben immer aus unseren Bestrafungen gelernt", sagte Rudi Rolleck. "Und als mein Vater aus dem Krieg nicht mehr zurueck kam, haben wir ihn alle sehr vermisst, trotz der vielen Schlaege, die wir als Jungs von ihm bezogen hatten."

"Tja, so ist das wohl mit den Vaetern. Meistens liebt man sie erst so richtig, wenn's zu spaet ist."

Die Maenner verliessen die Laube und gingen zurueck in den Vorgarten. Mit den Erinnerungen, die sie ausgetauscht hatten, waren beide fuer ein paar Minuten noch einmal zu Jungen geworden, und nun hofften sie, jeder fuer sich, auch ihren eigenen Soehnen gute Vaeter zu sein.


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