Der Fruehling Und Sein Sohn, Teil II


by Hans Jorgens <Stingpics@Yahoo.de>

Ich heisse Klaus-Peter Lenz. Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht, denn der Name ist eine Erfindung des Autors Hans Jorgens – wie auch sein eigener, der natuerlich ein Pseudonym darstellt. Er kennt aber meinen richtigen Namen, so wie ich nun auch den seinen. Vielleicht haben sie in der Geschichte „Der Fruehling und sein Sohn" etwas ueber mich erfahren. Fragen Sie mich nicht, wie ich von dieser kuerzlich im Internet veroeffentlichten Story erfahren habe – es spielt auch ueberhaupt keine Rolle.

Nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, habe ich mich ueber seine Mailadresse mit Hans Jorgens in Verbindung gesetzt, und vielleicht werden wir uns demnaechst nach ungefaehr vierzig Jahren wiedersehen. Dann koennen wir bei einer Flasche Wein Erinnerungen an eine Zeit austauschen, die zwar lange her, jedoch uns beiden in lebhafter Erinnerung geblieben ist. Hans Jorgens hat mir gestattet, diesen Beitrag unter seinem Pseudonym zu veroeffentlichen. Auf diese Weise kann der zweite Teil der Story „Der Fruehling und sein Sohn" praktischerweise unter dem selben Namen erscheinen wie der erste.

‚Der Fruehling – das war, wie die Leser des ersten Teils ja schon wissen, der respekt- und liebevoll gemeinte Spitzname meines Vaters Friedrich Lenz bei den Mitarbeitern seiner kleinen Textilfabrik. Nun hiess mein Vater in Wahrheit zwar weder Lenz noch wurde er heimlich ‚Der Fruehling genannt, doch der Autor Hans Jorgens hat eine damals tatsaechlich bestehende Verbindung zwischen dem Nachnamen und dem Spitznamen meines Vaters mit seiner dichterischen Freiheit auf sehr gelungene Weise wiederherzustellen gewusst. Ich werde hier natuerlich bei den Namen und Bezeichnungen der urspruenglichen Geschichte bleiben.

Also, noch einmal: Ich heisse Klaus-Peter Lenz. Geboren wurde ich als ‚Kriegskind. Meine Eltern hatten waehrend eines Fronturlaubs geheiratet und mich dann gleich in jenem Urlaub gezeugt. Mein Vater Friedrich Lenz war zu jener Zeit in Frankreich bei der Wehrmacht und kam unmittelbar nach meiner Geburt im Juni 1944 in amerikanische Gefangenschaft. 1948 wurde er entlassen, und wir zogen in die Naehe seiner Geburtsstadt. 1950 gruendete er eine Firma fuer Herrenbekleidung, die sich, nach gewissen Anlaufschwierigkeiten, im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders der fruehen Bundesrepublik Deutschland ganz hervorragend entwickelte. Ende der fuenfziger Jahre bezog meine Familie ein neues, groesseres Haus, das von einem riesigen Gartengrundstueck umgeben war. Trotz aller Bemuehungen meiner Eltern war weiterer Nachwuchs ausgeblieben, und so wuchs ich als Einzelkind heran.

Ich hatte eine behuetete Kindheit und war ein braver Junge. Letzteres hatte seine Gruende. Vor allem mein Vater war in Erziehungsfragen naemlich sehr konservativ und traf sich damit ziemlich genau mit dem restaurativen Zeitgeist der Adenauer-Ära. Als Teenager mochte ich zwar die Musik von Elvis Presley, Buddy Holly, den Everly Brothers und Ted Herold. aber ich durfte keinesfalls so aussehen oder mich so verhalten wie diese Idole unserer Kindheit und Jugend. Eine kurzer, ordentlicher Haarschnitt und saubere, jungenhafte Kleidung waren selbstverstaendlich. Elterlichen Anweisungen zu widersprechen oder ihnen entgegen zu handeln, waere mir kaum jemals in den Sinn gekommen. Und wenn ich doch einmal etwas ausgefressen hatte, dann gab es diverse Moeglichkeiten der Ahndung meines Vergehens - oder gleich den Hintern voll. So war das damals in mindestens achtzig Prozent aller Familien mit Kindern.

Meine Eltern benutzten bis in die spaeten fuenfziger Jahre ein altes Grammophon, auf dem sie ihre Schelllackplatten abspielten. Etwa zwischen meinem achten und zehnten Lebensjahr hatte ich eine Lieblingsplatte, die von dem beruehmten Schlagersaenger Rudi Schuricke gemeinsam mit seinem Sohn Michael besungen worden war. Den Refrain des Liedes kenne ich bis heute auswendig:

"Wir zwei sind die besten Kameraden Du und ich und ich und du Und mein Schaukelpferd dazu.

Wir zwei sind die besten Kameraden Denn der Vati denkt zuhaus Sich die schoensten Spiele aus.

Spielen Eisenbahn Sehn den Kasper an Spielen Ritter oder Zoo Manchmal gibts was auf den Po.

Trotzdem bleiben wir die besten Kameraden Weil wir uns so gut verstehn Und das ist schoen."

Ich liebte vor allem die froehlich kraehende Stimme von Michael und den Schluss des Liedes, wenn der gesamte Refrain noch einmal von einem Kinderchor wiederholt wurde. Wie oft habe ich dieses Lied damals lauthals gesungen oder mitgesungen, und gelegentlich fiel auch mein Vater, gemuetlich vor sich hin brummelnd, mit ein. Der Satz „Manchmal gibts was auf den Po" erschien mir damals vollkommen natuerlich, denn er entsprach meinen Erfahrungen genauso wie denen der allermeisten anderen Jungs in meinem Alter.

In Zeitungen und Zeitschriften gab es Bilderwitze, in denen ein Vater oder, seltener, eine Mutter ihr Kind uebers Knie gelegt hatte und ihm den Hintern versohlte. Auch in der beliebten Jugendzeitschrift ‚Rasselbande kam so etwas vor, und in spannenden Seriengeschichten wie ‚Gerd funkt auf eigener Welle oder ‚Die Rasselbande contra Boesenberg war ganz offen von vaeterlichen Zuechtigungsaktionen die Rede. Meine Mutter las den ‚Ratgeber fuer Haus und Hof, der sich mit Fragen wie „Laesst die Abhaertung der Kinder nach?" oder „Sind Kindersorgen ernst zu nehmen?" beschaeftigte und natuerlich auch gelegentlich Leserbriefe zum Thema Erziehung beantwortete, in denen zwar zur seltenen Anwendung der Pruegelstrafe geraten, diese aber durchaus nicht voellig abgelehnt wurde. Das Buergerliche Gesetzbuch gestattete den Ausuebenden der 'erzieherischen Gewalt' die koerperliche Zuechtigung sogar ziemlich eindeutig. Kurzum: Das gesellschaftliche Klima war damals so beschaffen, dass ein haeuslicher Hinternvoll in etwa so selbstverstaendlich war wie der stetige Wechsel der Jahreszeiten.

Sogar in der Schule durfte damals, zumindest in den meisten Bundeslaendern, noch der Rohrstock eingesetzt werden, allerdings aus mir unbekannten Gruenden nicht auf Gymnasien, so dass ich zwar gelegentlich Zeuge einer Kopfnuss oder einer kraeftigen Ohrfeige wurde, aber Schlaege auf das Hinterteil hatte ich nur in der Grundschule erlebt. Mir selbst war diese Form der Bestrafung dort zwar erspart geblieben, aber eben auch nur dort, denn zu Hause gab es fuer mich, wie fuer fast alle meine Freunde und Kameraden, nicht selten eine kraeftige Abreibung. Auch Maedchen waren von elterlichen Zuechtigungsaktionen durchaus nicht ausgeschlossen, und so kam es gar nicht so nicht selten vor, dass aus irgendeinem Haus- oder Wohnungsfenster das kraeftige Klatschen einer elterlichen Hand oder eines anderen Erziehungshelfers und dazu das jaemmerliche Heulen eines bestraften Kindes zu vernehmen war. Niemand schien sich daran zu stoeren; es gehoerte einfach zum taeglichen Leben. Manche Jungen schienen fast staendig ein paar Striemen oder blaue Flecken auf ihrem Hinterteil oder gar auf den, zumindest in der sogenannten warmen Jahreszeit, staendig gut sichtbaren Oberschenkeln zu tragen (fast alle trugen damals richtig kurze Hosen, und zwar sehr haeufig die aeusserst praktischen, heute leider so gut wie ausgestorbenen Lederhosen. Selbst mit sechzehn, siebzehn Jahren lief auch ich - zumindest in der Freizeit - noch darin herum.)

Ich wurde sehr frueh an vaeterliche Schlaege als Erziehungsmassnahme gewoehnt. So etwa von meinem fuenften Lebensjahr an legte mich mein Vater hin und wieder ueber sein Knie und versetzte mir einige Hiebe mit der flachen Hand auf den Hosenboden. Ich fand das voellig normal, auch wenn es sehr unangenehm war. Aber so war das eben. Strafen sollten schliesslich weh tun, um wirksam zu sein. In der damaligen Zeit war das noch allen klar. Meine Eltern und deren Vorgaengergenerationen hatten vieles mitmachen muessen im Leben, und die Notwendigkeit, durch Leichtsinn oder Vorsatz selbst herbeigefuehrtes Unglueck um jeden Preis zu vermeiden, hatte sich tief in ihr Bewusstsein eingegraben. Und wenn eines ihrer Kinder Unsinn machte, wusste dieses sehr frueh, dass es anschliessend dafuer leiden wuerde, und zwar deshalb, um daraus "etwas fuers Leben zu lernen".

In meinem achten oder neunten Lebensjahr ging mein Vater dazu ueber, einen alten Ping-Pong-Schlaeger fuer seine Erziehungsaktionen zu benutzen. Zu diesem Zweck hatte er die rote Beschichtung abgezogen, und die nunmehr blanke Holzflaeche des Schlaegers verursachte ein wahres Feuerwerk auf meinen sich schnell einfaerbenden, nun meistens nackten Hinterbacken. Das zog schon richtig kraeftig durch, und ich heulte bereits regelmaessig Rotz und Wasser, bevor ich ueberhaupt ueber Papas Knie lag.

Mein Vater und ich kamen eigentlich gut miteinander aus. Ich bewunderte ihn zutiefst, und neben Heinz Ruehmann und Elvis Presley war er mein grosses Vorbild. Damals war der Mann noch 'Herr im Haus', und mein Verhaeltnis zu ihm war natuerlicherweise von grossem Respekt gepraegt. Diesen Respekt brachte er mir auch vor anderen Menschen, vor Tieren und vor Dingen bei. Jeden Erwachsenen hoeflich mit einem kleinen Diener begruessen. In Gegenwart von Erwachsenen nur reden, wenn ich etwas gefragt werde. "Kinder bei Tisch, stumm wie ein Fisch". Tiere sind Wesen, die Gefuehle haben wie ein Mensch: "Quaele nie ein Tier zum Scherz!". Dinge sind pfleglich zu behandeln, eigene wie fremde. Und letztere erst recht.

Ich praegte mir alles gut ein. Probleme bekam ich daher fast nur, wenn es um schulische Angelegenheiten ging. Mein Vater bestand darauf, dass ich fleissig lernte und in allen Faechern stets gute Zensuren mit nach Hause brachte. Schon eine Drei konnte seine Stimmung in Schieflage bringen. Vieren waren praktisch unakzeptabel und loesten automatisch ein "ernsthaftes Gespraech" und Strafmassnahmen aus. Diese reichten von Arbeitsauftraegen in Haus und Garten ueber Stubenarrest bis hin zu koerperlichen Erziehungsaktionen. Mit einer Fuenf brauchte ich "gar nicht erst nach Hause zu kommen", und ein ordentlicher Hinternvoll war mir dafuer sicher. Zum Glueck bekam ich solche schlechten Noten ueber eine lange Zeit hinweg fast gar nicht. Ich war ein guter Schueler.

Mit dreizehn Jahren aber geriet ich zunehmend in eine Phase der Traeumerei und Faulheit hinein, die irgendwann einfach Konsequenzen nach sich ziehen musste. In der Klasse sass ich einfach da, starrte aus dem Fenster und war mit meinen Gedanken weit weg bei den Cowboys in Amerika oder in irgend einem Fussballstadion, wo mir, dem besten Torjaeger der Welt, 80.000 wildfremde Menschen frenetisch zujubelten. Diese 'Aufmerksamkeitsluecken' fuehrten schnell zu einer Verschlechterung meiner muendlichen Zensuren und kurz darauf dann auch zu hoechstens befriedigenden oder nur noch ausreichenden schriftlichen Arbeiten. Zwischenzeitlich wachte ich kurzfristig auf, als ich innerhalb von drei Tagen zwei Mal den Hintern voll bekam, aber selbst dieses Mittel wirkte anscheinend nicht mehr richtig, denn schon bald verfiel ich wieder in den alten Trott.

Und dann kamen an einem warmen Spaetsommertag gleich zwei Dinge zusammen: Zunaechst erhielt ich eine glatte Fuenf in Geschichte und danach die Aufforderung, dass ein Elternteil kurzfristig meine Klassenlehrerin in der Sprechstunde aufsuchen moege, um ueber mein Verhalten im Unterricht und meinen unerklaerlichen Leistungsabfall zu sprechen. Da sass ich nun im Klassenzimmer, jaeh aus meinen Traeumereien geholt und voller Angst vor dem, was mit mir nun bevorstand. Ich dachte kurz darueber nach, irgendein Auto anzuhalten und einfach von zu Hause abzuhauen, aber diesen Gedanken verwarf ich ebenso schnell, wie er gekommen war. Sie wuerden mich ja doch irgendwann kriegen, und dann Gnade mir Gott ...

Langsam und voller duesterer Vorahnungen schlich ich nach Hause. Mein Freund Andreas liess die Stimmung endgueltig ins Bodenlose sinken:

"O Mann, o Mann, wenn ich mit solchen Nachrichten nach Hause kommen wuerde, koennte ich gleich mein Testament machen. Mein Vater wuerde mich so fuerchterlich verdreschen, dass ich vier Wochen lang nicht sitzen koennte. O Mann, o Mann, o Mann!!"

Nun neigte Andreas von jeher zu gewissen verbalen Übertreibungen, andererseits war mir aber sehr wohl bekannt, dass er einen leicht reizbaren und ziemlich handfesten Baeckermeister zum Vater hatte.

"Womit verdrischt dich denn dein Vater?", begehrte er nun zu wissen.

"Mit ueberhaupt nichts!"

Das war offensichtlich ziemlich unglaubwuerdig geklungen, denn Andreas lachte mit seiner hellen Jungenstimme auf.

"Nun sag' schon, Klausi-Mausi! Ich krieg' sie jedenfalls immer mit'm Elektrokabel, abends in der Backstube. Aua, aua, aua, sag' ich nur!"

Mittlerweile hatten wir meine Strasse erreicht. "Nun sag' schon, Junge", fuhr er mit seiner unsensiblen und in dieser Situation hoechst unpassenden Befragung fort, "habt ihr'n Rohrstock zu Hause wie bei Klodemanns oder bei Guenni Reichelt?"

"Quatsch!", sagte ich genervt.

"Oder kriegst du's mit dem Riemen?"

Wir standen vor unserem Haus. "Tschues, bis morgen!", sagte ich und oeffnete hastig die Gartenpforte.

"Alles Gute!", rief mir Andreas noch hinterher. Na, immerhin.

Als ich das Haus betrat, hoerte ich meine Mutter in der Kueche munter vor sich hinpfeifen. Ich legte meinen Ranzen im Flur ab, ging zu ihr und begruesste sie wie immer mit einem Kuss auf die Wange.

"Na, mein Peterli, wie war die Schule?"

Ich hasste es, dass ich fuer sie mit meinen dreizehn Jahren immer noch ihr 'Peterli' war.

Sie fuellte uns aus dem dampfenden Kochtopf auf und fragte: "Ist irgendwas?"

"Mmh."

Sie brachte den Topf zurueck und setzte sich zu mir an den Tisch. "Habt ihr eine Arbeit zurueck bekommen?". Ein pruefender Blick aus ihren schoenen blauen Augen.

"Mmmhh."

"Und??"

Ich zoegerte die Antwort hinaus, indem ich laenger als notwendig auf einem Stueck Roulade herumkaute. Dann spuerte ich, wie mir das Wasser in die Augen stieg.

"Ich hab' ne Fuenf in Geschichte", sagte ich mit fast brechender Stimme.

"O Gott!", entfuhr es meiner Mutter. "Das ist doch wohl nicht wahr?"

Meine Haende waren feucht, und ich wischte sie an der Lederhose ab. Dann fing ich an zu heulen. Es kam einfach so. Ich konnte nichts dagegen tun, und ich schaemte mich unendlich dafuer. Schliesslich war ich doch kein kleines Baby mehr.

"Na, na!", sagte meine Mutter hilflos.

"Und dann ist da noch was." Ich rieb mir mit dem Handruecken in den brennenden Augen herum.

"Noch was?"

Ja, noch was! Doch wie sollte ich es ihr bloss sagen?

Sie strich mir kurz ueber meinen Stoppelschnitt.

"Was kommt denn da noch?", fragte sie leise.

Ein Aufschluchzen drang aus meiner Kehle. "Frau Kustermann hat mir einen Zettel mitgegeben. Du oder Papa sollen in ihre Sprechstunde kommen."

Schweigen am Tisch.

"Wo ist der Zettel?", fragte meine Mutter.

Ich stand auf und holte das Ding aus meinem Schulranzen. Es schien so schwer zu wiegen wie ein grosser Stein.

Meine Mutter las den Text laut vor: "Sehr geehrte Eltern! Ich bitte hiermit darum, dass mindestens ein Erziehungsberechtigter Ihres Sohnes Klaus-Peter Lenz am naechsten Dienstag um 13.30 Uhr in meine Sprechstunde kommt, um ueber die aktuelle Entwicklung ihres Kindes zu sprechen. Mit freundlichem Gruss, Rosemarie Kustermann."

Ich sass einfach nur da. An Essen war nicht mehr zu denken, denn der Appetit war mir gruendlich vergangen.

"Das musste ja mal irgendwann so kommen", stellte meine Mutter ueberraschend sachlich fest. "Na, da bin ich gespannt, was dein Vati dazu sagen wird!"

Dieser Satz heizte die Wasserproduktion bei mir erneut an.

"Musst du es ihm denn unbedingt sagen?", fragte ich zwischen zwei heftigen Schluchzern und wusste die Antwort natuerlich schon vorher.

"Na, was glaubst du denn wohl? Meinst du etwa, ich koennte es ihm verheimlichen? Du bist vielleicht ein Schlauberger!"

Meine Frage war rein rhetorischer Natur gewesen. Mit Muehe konnte ich noch ein paar Happen herunterbringen und wurde dann fuer meinen ueblichen Mittagsschlaf nach oben geschickt.

"Anschliessend machst du dich sofort an deine Schularbeiten, damit sie fertig sind, wenn Vati nach Hause kommt. Und ordentlich schreiben, hoerst du?", ermahnte mich meine Mutter unnoetigerweise.

Die naechsten Stunden waren schrecklich und zogen sich scheinbar unendlich lange hin. Ich konnte nicht einschlafen, sondern dachte immer nur darueber nach, was abends mit mir geschehen wuerde. Irgendwann stand ich auf, zog Hemd und Lederhose wieder an und machte mich an die Hausaufgaben. Doch auch die Arbeit am Schreibtisch lenkte mich nur kurz von dem Gedanken an die Gewitterfront ab, die das Erscheinen meines Vaters mit sich bringen wuerde. Magen und Darm rumorten. Noch mindestens drei Stunden, bis mein Vater aus der Firma kommen wuerde. Diese Zeit erschien mir gleichzeitig viel zu lang und viel zu kurz. Mathematik, Biologie und Deutsch. Vergeblich versuchte ich, mich zu konzentrieren. Dann ging es doch einigermassen. Die Arbeit lenkte mich von dem Kommenden ab. Ich machte mich an einen zweiseitigen Aufsatz ueber das Thema "Was ich einmal werden moechte". Was wollte ich denn werden? Und woher sollte ein Dreizehnjaehriger das ueberhaupt schon wissen? Natuerlich wuerde ich irgendwann die Firma meines Vaters uebernehmen, das war allen ausser mir laengst klar. Aber wollte ich das denn auch? Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das war, eine Bekleidungsfirma zu leiten. Natuerlich wuerde ich eine schoene junge Sekretaerin haben, die mir heissen, duftenden Kaffee an den Schreibtisch brachte. Aber konnte ich das in einen Aufsatz schreiben? An meinem Fuellhalter herumkauend, versuchte ich, die beiden geforderten Seiten zu fuellen.

Irgendwann fuhr ein Auto in den Hof. Ich blickte auf meine neue Armbanduhr. Viertel nach sechs. Ans Fenster eilend, sah ich, wie der schwarze Mercedes in der Garage verschwand. So frueh kam mein Vater nur selten nach Hause. Da waren sie ploetzlich wieder, die flatternden Schmetterlinge in meinem Magen. Wie erstarrt blieb ich hinter der Gardine stehen. Die naechsten paar Minuten geronnen zu Stunden.

"Klaus-Peter! Runter kommen!!"

Die Stimme meines Vaters. Laut. Sehr laut. Ehrfurcht gebietend laut. Ein Schaudern durchlief meinen Koerper. Meine Beine schienen aus Gummi zu bestehen. Ich raeusperte mich voellig sinnlos. Langsam verliess ich mein Zimmer, und noch langsamer schlich ich die Treppe hinunter.

"Aber zackig jetzt, mein lieber Freund!", rief mein Vater, der bereits im Korridor auf mich wartete. Trotz der sommerlichen Waerme froestelte mich auf einmal an den nackten Armen und Beinen. Unten angekommen, bewegte ich mich mit der Todesverachtung eines Kamikazepiloten auf meinen Vater zu.

"Wohnzimmer!", sagte mein Vater und liess mich vorbei. Er folgte mir und schloss die Tuer hinter sich. Ich vermisste den Ping-Pong-Schlaeger in seiner Hand.

"Hinsetzen!"

Ich nahm mir einen Stuhl und legte die Haende auf meine Oberschenkel. Mein Vater blieb stehen. In den naechsten zehn Minuten las er mir eine ausfuehrliche Epistel ueber Pflichtgefuehl, Fleiss, Disziplin und Arbeitswillen sowie die Folgen von fehlendem Pflichtgefuehl, Fleiss, Disziplin und Arbeitswillen, inklusive eines drohenden Lebens in Armut, Obdachlosigkeit und Schande. Er sprach leise, aber bestimmt. Er klang nicht einmal wuetend, sondern eher enttaeuscht. Als mir von der vaeterlichen Standpauke schon die Ohren klingelten, sagte er auf einmal: "Steh' auf!"

Ich stand auf.

"Nimm dir einen Stuhl und geh' damit zum Wohnzimmerschrank."

Ich tat es.

"Steig' auf den Stuhl."

Ich stieg auf den Stuhl.

"Hol' den Stock herunter und komm' dann wieder hierher."

Ich musste den Stuhl ein Stueck zur Seite ruecken, um den Stock mit einer Hand erreichen zu koennen.

"Bring' ihn her."

Ich brachte ihm den Stock.

"Dieser treue Helfer wird dich von jetzt an begleiten.", sagte mein Vater, "Ab heute werde ich dich, wenn du Schlaege bekommst, mit diesem Rohrstock bestrafen. Aus meiner eigenen Kindheit und Jugend weiss ich noch sehr genau, was er an und in einem Bengel bewirken kann. Und er wirkt, mein Sohn, das kannst du mir gerne glauben."

Ich glaubte ihm sofort. Mit trockener Kehle starrte ich beschaemt und verlegen auf das neue Zuechtigungsinstrument.

"Du wirst jetzt deinen ersten Hinternvoll mit dem Rohrstock bekommen. Die Hose bleibt an, aber es kann durchaus sein, dass sie beim naechsten Mal herunterkommt. Das haengt ganz vom Anlass ab. Haben wir uns da verstanden?"

Ich brachte ein klaegliches "Ja" hervor.

"Gut. Dann gehe jetzt zu dem mittleren Sessel und beuge dich ueber die Ruecklehne."

"Bitte nicht, Papi, ich will mich auch ganz bestimmt bessern!", hoerte ich mich jammern.

Zur Antwort wies er mit der ausgestreckten Hand auf den Sessel.

"Na los! Um so schneller hast du's hinter dir."

Ich ging auf den Sessel zu und blieb dahinter stehen.

"Brauchst du noch eine schriftliche Aufforderung?"

Ich beugte mich ueber die Lehne. Mein Vater zog die Lederhose mit einem Ruck nach oben und damit noch strammer ueber mein Gesaess. Ich konnte das feine Muster des Sesselbezuges erkennen. Der Rohrstock zischte ein paar Mal durch die Luft. Stille. Dann urploetzlich ein Knall und kurz darauf ein sengender Schmerz.

"Ouuaaaa!", schrie ich unwillkuerlich auf. Mein Hinterteil schien in Flammen zu stehen. Sofort schossen mir Traenen in die Augen.

Und ZACK!! Der zweite Einschlag.

"Auuuuuuuuuu!!"

Meine Haende schossen automatisch nach hinten und legten sich schuetzend ueber den Hosenboden. Da ich nun keinen Halt mehr hatte, rutschte mein Oberkoerper etwas weiter nach unten.

"Haende nach vorne!", hoerte ich eine scheinbar ferne Stimme rufen. Dann wurde ich auf der Lehne wieder in die richtige Position gerueckt.

"Reiss dich zusammen, Junge!"

Ein grossartiger Vorschlag!

"Aber es tut doch so doll weh, Papa!"

"Na, dann sind wir ja auf dem richtigen Weg!"

Ich wartete auf den naechsten Hieb.

ZACK!!

"Aua, auuuuaaaa!!"

Das Flammenmeer wurde groesser. In mir der irrsinnige Wunsch, einfach aufzuspringen.

"Das war schon die halbe Miete", sagte mein Vater.

Die halbe Miete?

ZACK!!!

Ich jaulte wie ein Hund, der den Mond ansingt. Diesmal hatte der Stock offenbar auch nackte Haut getroffen, was kein Wunder war, lag doch sicherlich ein Teil meiner Pobacken frei.

ZACK!!

"Auuuu!!"

Nun heulte ich hemmungslos.

ZACK!!

"Auuuuaaaa!!!"

Ich lag ueber der Sessellehne und flennte wie ein kleines Kind. Rotz und Wasser liefen mir aus der Nase in den Mund. Wie viel hatte ich bekommen? Fuenf? Sechs? Oder zwanzig? So fuehlte sich jedenfalls mein Hintern an.

"Du darfst jetzt hochkommen."

Irgendwie kam ich auf die Fuesse und rieb sofort verzweifelt mit beiden Haenden ueber meine verstriemte Sitzflaeche. Mein Vater liess mich gewaehren. Der Stock in seiner Hand zeigte nun tatenlos in Richtung Fussboden. Nach einiger Zeit hatte ich mich ein wenig beruhigt, obwohl immer neue Schluchzer in mir aufstiegen und heftig an die Oberflaeche draengten.

"Nun weisst du, wie mein treuer Helfer zubeissen kann", sagte mein Vater. "Aufgrund deiner seit geraumer Zeit unakzeptablen Leistungen und der leider bisher nicht eingetretenen Besserung halte ich es fuer notwendig, dich von nun an regelmaessig an deine schulischen Pflichten zu erinnern. Darum wirst du kuenftig alle vier Wochen hier im Wohnzimmer antreten und von mir eine Auffrischungstracht mit dem Rohrstock erhalten."

Mein Herzschlag setzte fuer einen kurzen Augenblick aus.

"Aber Papa ...!!"

"Keine Diskussion! Und sollte das alles immer noch nichts bewirken, werde ich dich zusaetzlich vom Fussballverein abmelden. Haben wir uns verstanden?"

O nein, das konnte er nicht tun! Das wuerde er nicht tun!

"Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt!"

"Ja, Papa!"

"Gut. Dann kannst du dich jetzt ein bisschen frisch machen. Und um Punkt Sieben erscheinst du in der Kueche zum Abendbrot."

"Ja, Papa!"

Der Ankuendigung meines Vaters folgten Taten, und so erhielt ich Monat fuer Monat puenktlich meine Erinnerungstracht, und zwar sogar im Urlaub, ob nun in einer Pension in Berchtesgaden auf die Lederhose, in einem Hotel in Rimini auf die duennen Sommershorts oder, mit fuenfzehn Jahren, sogar im Campingzelt an der Ostsee, auf die kurze Badehose. Der Rohrstock war immer dabei. Als ich sechzehn wurde, eroeffnete mir mein Vater, dass ich von nun an nur noch alle drei Monate ueber den Sessel muesse. Das war eines der schoensten Geburtstagsgeschenke meines Lebens! Meine allerletzte, fast feierliche 'Quartalstracht' bekam ich dann als Student, kurz vor meinem Eintritt in die Volljaehrigkeit - zwanzig Hiebe auf den nackten Hintern.

1972 heiratete ich die Frau, mit der ich auch heute noch gluecklich zusammenlebe. Wir haben zwei Kinder. Unser Sohn Thomas wurde 1973 geboren, unsere Tochter Miriam kam zwei Jahre spaeter. Beide haben uebrigens gelegentlich einen Hinternvoll bekommen; allerdings nicht mehr mit dem Rohrstock, sondern mit einem gut durchziehenden Kochloeffel, vor dem sie aber ebenfalls sehr grossen Respekt hatten.

Mein Sohn ist inzwischen stolzer Vater eines aufgeweckten Neunjaehrigen namens Malte. Neulich sagte Thomas zu mir: "Also Papa, vorgestern war ich ganz kurz davor, den frechen Bengel einmal richtig uebers Knie zu legen!"

"Und, warum hast du's nicht getan?", fragte ich ihn.

Er ueberlegte ein Weilchen und antwortete dann: "Ach, du weisst doch, wie das ist. Man tut so etwas einfach nicht mehr. Wenn man seine Goeren heutzutage auch nur etwas herzhafter anfasst, ist man doch schon wegen Kindesmisshandlung dran."

Ich nickte.

Thomas sah mich an: "Das war vor zwanzig Jahren noch anders, nicht wahr? Damals hab' ich sie manchmal ganz schoen kraeftig von dir gekriegt!"

"Ich weiss. Und, hat's dir sehr geschadet?"

"Nein. Ich denke, es hat mir sogar gut getan. Was meinst du denn dazu?"

Ich laechelte. "Davon bin ich ganz fest ueberzeugt, mein Sohn."

"Du hast ja als Junge von Opa Friedrich sogar regelmaessig was auf den Hintern bekommen", erinnerte sich Thomas an einige immer wieder gern erzaehlte Anekdoten.

"Sehr regelmaessig", antwortete ich.

"Na, sieh' mal, und ein ganz schlechter Kerl ist aus dir ja trotzdem nicht geworden!"

Ich lachte. "Danke, mein Sohn, diese Einsicht freut mich wirklich sehr!"

Friedrich Lenz, 'Der Fruehling', mein Vater, ist 1995 mit fast achtzig Jahren friedlich eingeschlafen. Obwohl er nun schon einige Jahre nicht mehr da ist, glaube ich ganz fest daran, dass er in mir und meinen Kindern weiterlebt - und vielleicht ja auch ein wenig in dem frechen kleinen Malte, der seinen Uropa Friedrich nicht mehr kennen lernen durfte.


More stories by Hans Jorgens